Die Seele des Hundes verstehen
Hundexperte antwortet Hundefreundin
Können Hunde Gefühle wie Liebe, Trauer oder Zorn empfinden? Welche Bedürfnisse haben Hunde? Wie baue ich am besten eine Bindung zu meinem geliebten Vierbeiner auf? Im Buch „Was fühlt mein Hund? Was denkt mein Hund?“ stellt die begeisterte Hundehalterin Nina Ruge dem Hundeverhaltensexperten Günther Bloch Fragen, die jeden interessierten Hundebesitzer beschäftigen. Anhand zahlreicher Alltagssituationen diskutieren die Journalistin und der Hundeexperte über das Leben mit und von Hunden.
Exklusiv möchten wir Ihnen eine Frage von Nina Ruge und die Antwort des Hundeexperten Günther Bloch aus dem Buch vorstellen. Die Frage dreht sich um das interessante Thema: Haben Hunde einen sechsten Sinn?
Frage Nina Ruge
„Meine Hunde sind Wunderhunde!“ Diese Aussage unterschreibt wahrscheinlich jeder Hundebesitzer. Schließlich halten uns die Vierbeiner ja ständig und unendlich charmant vor Augen, dass Mutter Natur uns selbst vergleichsweise sparsam ausgestattet hat. Allein ihre Nase. Meine hilft mir gerade einmal dabei, leckeren Braten von Gammelfleisch zu unterscheiden. Lupo (Anmerkung der Redaktion: Lupo ist der Entlebucher Sennenhund von Frau Ruge) dagegen riecht es 500 Meter gegen den Wind, wenn ich ein Stück Wurst in der Hand halte – was er mir unmissverständlich klarmacht, indem er seine Schlappohren aufstellt und im Schweinsgalopp angesaust kommt, um sich die Leckerei einzuverleiben. Apropos Schweinsgalopp. Wie schaffen es Hunde bloß, im Mordstempo über Schotter und Steilhänge oder durch struppiges Unterholz zu jagen, ohne
sich dabei auch nur den kleinsten Kratzer zuzuziehen? Was für eine Leistung des Gehirns, in Millisekunden nicht nur die Beschaffenheit des Untergrunds, sondern auch die Hindernisse rechts, links, vorne und oben zu rastern – um im selben Moment die gesamte Körpermuskulatur zu einer vollendeten Drehung zu animieren? Augen, Ohren, Tastsinn und Nase funken im Sekundentakt Millionen Impulse an das Hundehirn, das dann die perfekte Reaktion liefert – quasi ohne jede zeitliche Verzögerung.
Doch noch einmal zurück zur Hundenase. Schon vor Drogenspür- und Rettungshunden neige ich meine Nasenspitze bis zum Knie. Doch letztens las ich, dass speziell ausgebildete Hunde am Atem eines Menschen sogar erschnüffeln können, ob in seiner Lunge Krebszellen ihr tödliches Unwesen treiben oder nicht. Welch eine Leistung! Das großartige Gehör scheint kaum hinten anzustehen. Ein Hund hört ja nicht nur Herrchens Auto, den Schlüssel im Schloss oder Nachbars Katze im Garten, während wir selbst uns noch an der wunderbaren Stille erfreuen. Nein, er unterscheidet zugleich: Welches Geräusch kenne ich, welches kann ich einschätzen und als „ungefährlich“ abhaken? Welches ist neu, fremd und möglicherweise bedrohlich? Lupo beispielsweise bellt nicht, wenn unsere Katze im Dunkeln einen Baumstamm erklimmt. Versucht aber ein fremder Kater genau das Gleiche, gibt es Zunder. Ich sag’s ja: Wunderhund! Und Lupo ist da bestimmt kein Einzelfall.
Wie machen Hunde das? Ich bin sicher nicht die Einzige, für die kein Zweifel darin besteht, dass Hunde so etwas wie einen sechsten Sinn haben. Wenn mein Mann von einer Reise zurückkehrt und ich Lupo abends sage: „Herrchen kommt heute noch, aber erst spät“, spitzt er die Ohren, schnauft und legt sich wieder hin. Wenn ich dann ins Bett gehe, folgt er mir nicht wie gewohnt zu seinem Körbchen ins Schlafzimmer. Stattdessen bleibt er in der Diele liegen. Ein, zwei Stunden später weckt mich sein Fiepen. Wenn ich nachsehe, steht er schwanzwedelnd und jubilierend vor der Haustür. Doch sonst tut sich nichts. Erst zwei Minuten später höre ich ein Motorengeräusch. Tatsächlich, mein Mann kommt nach Hause. Aber verflixt noch mal, Lupo schmachtete schon an der Tür, als das Auto noch mindestens einen Kilometer entfernt war. Und überhaupt: Hat dieser Schlaumeier tatsächlich kapiert, dass sein Herrchen noch nach Hause kommt, bloß weil ich diesen einen Satz gesagt hatte? Das bilde ich mir doch nicht alles ein. Hunde haben einen sechsten Sinn, oder?
Antwort Günther Bloch:
Ja, man könnte durchaus davon ausgehen, dass Hunde eine Art sechsten Sinn haben. Trotzdem sollte man mit dieser Aussage vorsichtig sein, denn viele Verhaltensgewohnheiten sind konditioniert, der Hund hat sie also schlicht und ergreifend erlernt. Für einen Hund, der zirka dreimal so weit hören kann wie wir, ist es zum Beispiel kein Problem, das individuell bekannte Motorengeräusch des Autos von Herrchen oder Frauchen schon auf Distanz zu orten. Und die Erfahrung zeigt ihm, dass „sein“ Mensch, kurz nachdem er das spezifische Geräusch wahrgenommen hat, zur Tür hereinkommt. Er weiß also: Auto brummt, Herrchen kommt. Klassische Konditionierung.
Nichtsdestotrotz erinnern viele Fähigkeiten unserer Vierbeiner an unerklärliche Phänomene. Und so muss selbst ich mich immer wieder wundern, was Hunde so alles können. Nehmen wir nur mal Geruchs- und Hörsinn, der bei den meisten Haushunden nicht weniger gut ausgebildet ist als bei ihren „Ahnen“ in der freien Wildbahn. Wenn der Wind aus der richtigen Richtung kommt, sind Wölfe nachweislich dazu in der Lage, ein verletztes Beutetier über eine Distanz von rund einem Kilometer zu wittern. Gleiches gilt für die zielgerichtete Aufnahme von Geräuschen. Wölfe können Tonhöhen unterscheiden, die nur einen Achtelton auseinander liegen. Dabei nehmen sie auch hohe Frequenzen im Ultratonbereich wahr, die wir Menschen gar nicht hören. Unsere Haushunde haben diese auf hoch entwickelten Sinnesleistungen beruhenden Fähigkeiten nicht verloren. Außerdem sind sie trotz Domestikation Beutegreifer geblieben. Daher können sie zum Beispiel das Quietschen einer Maus in weniger als einer Hundertstelsekunde ganz präzise zuordnen. Eine im wahrsten Sinn des Wortes übermenschliche Leistung.
Bläst der Wind aus der falschen Richtung, wird die Sache jedoch selbst für die „Großmeister“ schwierig. Insofern bezweifle ich auch, dass ein Hund ein Stückchen Wurst schon 500 Meter gegen den Wind riechen kann. Trägt der Wind den feinen Geruch allerdings direkt auf ihn zu, ist es ein Leichtes, sich genau zu orientieren. Lupo hat also einen durchaus treffenden Namen: Wolf. Aber noch einmal zurück zu den „übersinnlichen“ Fähigkeiten. In vielen Fällen ist es die Kombination aus Konditionierung, Gewohnheit (fachsprachlich nennt man diesen Aspekt Habituation) und Sinnesleistungen, die zu erstaunlichen Resultaten führt. Meine drei westsibirischen Laiki haben zum Beispiel über die Jahre die besondere Fähigkeit entwickelt, meiner Frau Karin und mir jeden Wolf zu melden, ihn zu wittern und uns danach präzise anzuzeigen. Sie haben große Freude daran, den Geruch von frei lebenden Timberwölfen aufzunehmen und uns darüber zu informieren. Ich würde sogar behaupten, dass unsere Freilandforschung an Hundeartigen, die wir seit nunmehr über 20 Jahren durchführen, ohne die aktive Hilfe unserer speziell auf Wolfs- und Kojotensichtungen ausgebildeten Hunde weitaus weniger erfolgreich wäre. Das Orientierungswittern stellte für sie kein Problem dar, schließlich verfügen sie wie jeder Haushund über rund 200 Millionen Geruchsrezeptoren (chemische Sinnesleistung). Hinzu kommt, dass wir unsere drei ausgiebig für jede Wolfsanzeige loben (Konditionierung). Und weil wir das grundsätzlich immer so tun, wird daraus eine Gewohnheit (Habituation). Die Kombination macht’s.
Noch kurz zum Schweinsgalopp und zur unglaublichen Wendigkeit der Vierbeiner. Man darf nicht vergessen, dass Hunde „Bewegungsspezialisten“ sind. Als Jäger achten sie in erster Linie auf schnell ablaufende Bewegungsmuster, um ein potenzielles Beutetier falls nötig zielorientiert verfolgen zu können. Dazu kommt, dass ihr Sichtfeld durchschnittlich etwa 70 Prozent breiter ist als das unsere. Hunde können ihre Umwelt also zehnmal besser wahrnehmen als Menschen. Dadurch registrieren sie natürlich nicht nur ihre Beute, sondern auch die klitzekleinste Bewegung unsererseits und wissen oft schon längst Bescheid darüber, dass etwas geschehen wird, wenn wir noch überzeugt sind, keinerlei Signale gesendet zu haben. Ist Ihr Hund es beispielsweise gewohnt, für ein bestimmtes Verhalten eine Belohnung zu bekommen (wieder ein klassischer Fall von Konditionierung), und machen Sie – vielleicht unwissentlich oder weil Sie denken, er sieht es nicht – nur eine kleine Handbewegung, ist seine Erwartungshaltung bereits geweckt. Natürlich wird er sich daraufhin entsprechend verhalten, was uns wiederum wie eine unerklärliche Fähigkeit erscheinen mag.
Für eine paar schöne Eindrücke vom Fotoshooting zum Buch clicken Sie sich durch unsere Bildergalerie.